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Im Winter kann es passieren, dass man den Bezug zur Realität ein wenig verliert. Die Füße verlassen ein klein wenig den Boden. Wenn man zu viele Filme, Dokus und Berichte anderer Radfahrer gelesen hat. Da klingen Touren mit 200, 300 und mehr Kilometer wie eine wichtige Zutat für epische Abenteuer. Bevor die Sonne aufgeht auf dem Rad, den ganzen Tag unter der Sonne und im Dunkeln wieder ankommen. In dem Moment wo ich dies schreibe bekomme ich wieder Lust die nächste Tour zu planen. Aber was wenn diese Pläne irgendwann mit der Realität kollidieren? Vor der Abfahrt zu meiner 200km Challenge war ich dann doch ziemlich nervös. Habe ich mich vielleicht etwas überschätzt?

Geplant war die längste Tour des Jahres als Expedition mit dem Rad von Hamburg zum Brocken. Klar war, dass der komplette Weg mit knapp 300km nicht sinnvoll ist. Deshalb sollte der erste Teil per Bahn und die restlichen 220km mit über 2.000hm dann per Rad erklommen werden. Doch desto näher der Tag kam desto kürzer wurde die Strecke. Bis ich irgendwann bei 180km angelangt war. Denn die restlichen Touren, quer durch Deutschland zu den höchsten Spitzen aller Bundesländer, hatten Kraft gekostet. Also stutzte ich meinen Track zum Gipfelduo Brocken (Sachsen-Anhalt) und Wurmberg (Niedersachsen) immer kürzer. Doch zum Schluss sollte meine Fitness noch viel schlechter bestellt sein als gehofft.

(der geplante Track, der nicht 1:1 abgefahren wurde)

From Dawn till Dusk

Anders als in Filmen wird die reale Erfahrung nicht auf 30 Minuten geschnitten. Man sitzt tatsächlich den ganzen Tag im Sattel und kommt und kommt einfach nicht am Ziel an. Der Weg ist das Ziel. Doch das gilt nur in Verbindung mit einem wirklich schönen Weg. Das lies auf der Strecke von Celle über Braunschweig bis zur Grenze am Naturpark Harz zu wünschen übrig. Ich hätte eine bessere Route wählen können als die ersten 100km auf dem Radweg neben einer hochfrequentierten Bundesstraße zu fahren. Nie hatte ich so viel über Streckenplanung gelernt als auf dieser Tour. Durch Fehler lernt man bekanntlich am meisten.

Mein Weg bahnte sich weiter über hügelig werdende Landschaften bis am Horizont die Gipfel der Tagesziele auftauchten. Erst diesig in der weiten Entfernung unter der prallen Sommersonne, dann konnte man immer mehr Details wie Funktürme und Wetterstationen ausmachen. Während der heißesten Phase des Tages knallte die Sonne, aber der Fahrtwind brachte die gefühlte Temperatur wieder ins Gleichgewicht. Kurz vor dem echten Anstieg ins Herz des Harz auf den Brocken landete ich in einem verschlafenen Dörfchen. Typisch für ein Winterressort gab sich der Ort verschlafen an diesem Augusttag. Ein leichter Ost-Charme lag auf allem, keine Spur von Digitalisierung oder jeglicher Moderne. Entschleunigung gar ein Fremdwort.

Im Schatten an einem kleinen Bachlauf konnte ich kurz Kraft tanken. Ein kleiner Super-Tante-Emma-Markt lieferte etwas Energie in Form von Obst und VitaCola. Mehr als eine kleine Stärkung war nicht drin, da mein Bauch rebellierte. Wahrscheinlich eine Mischung aus Anstrengung und Stress hatte meine Verdauung gestoppt und es sollte an dem Tag auch nicht mehr besser werden. Die restlichen Reserven für den Tag müsste der Körper aus gespeicherter Energie holen. Aber davon hat man ja genug 🙂

Aufstieg und Abstieg zugleich

Wernigerode war der letzte Ort, bevor mein Weg in den Wald bog. Und leider über eine Bundesstraße die direkt gen Gipfel am Brocken führte. Mit letzten Kraftreserven machte ich noch einen kurzen Halt. Um mich dann leise fluchend hoch zu kurbeln, während P- und LKWs mich überholten. Alternative Routen aus dieser Richtung gab es kaum. Ich traf sogar viele Wanderer auf dieser hochfrequentierten Bundesstraße. So soll das hier wohl sein. Dabei merkte ich immer mehr, dass auch so langsam die letzten Reserven erschöpft waren. Ich wurde langsamer und ohne Essbares lief der Ofen nicht. Der Gedanke an Energieriegel gab ein finsteres Echo aus der Magengegend. Also ließ ich es auch nicht auf einen Versuch ankommen. Und biss mich mit leerem Magen den Weg hoch.

Elend war hier Programm. Sowohl der Ort (bei Schierke) an dem ich vorbeikam als auch mein Zustand. An der Kreuzung von Bundesstraße auf den ruhigen Waldweg ließ ich mich erstmal ins Gras fallen. Sonnenstrahlen wärmten jetzt am frühen Abend schön. Hitze wurde langsam zur angenehmen Wohlfühltemperatur. So lag ich etwa eine Stunde ausgeknockt im Gras. Nicht am Gipfel, aber ich musste mich neu sortieren und die Situation bewerten.

Derweil legte die kohlebetriebene Bergbahn ihre Rauchwolke über die Nadelbäume. Mehrmals täglich geht die Eisenbahn von Tal bis ganz nach oben zur Wetterstation auf dem Brocken. Die Lock verfolgte mich ständig auf dem Weg nach oben. So romantisch der feuerbetriebene Antrieb ist, so wenig witzig ist es als Radfahrerer sich durch die Rauchwolke den Weg zu husten. Aber das war mein geringstes Problem. Nach der Pause sah der Blick auf den Zeitplan sehr eng aus. Noch knapp 400hm auf den Brocken, dann nochmal runter und wieder 300hm auf den Wurmberg. Auf 60km Stecke. Am besten in 3 Stunden. Leicht regeneriert ging es weiter.

Glücklicherweise ist der Weg von Schierke geschottert, breit und asphaltiert. Und vor allem autofrei. Bis zum Gipfel überholen mich noch eMTB-Fahrer, aber Hauptsache es geht weiter. Leicht erschöpft komme ich an der Endstation der Bahn an und kann den Funkturm, Wetterstation und Gipfelkreuz bewundern. Nach kurzem Sightseeing geht es wieder mit 50km/h bergab. Dabei verfolgen mich noch Warnschilder mit fliegenden Radfahrern – es scheint einen Grund für diese zu geben. Denn der asphaltierte Weg lädt ein schneller zu fahren. Dabei kommen viele Personen den Weg hoch, eine nachvollziehbare Gefahr.

Vom Brocken aus kann man den Wurmberg und sein Skigebiet-Areal sehen. Mit meinem letzten Ziel für den Tag im Blick kann ich aufatmen. Doch die letzten 300hm fordern auch die letzten verbliebenen Kräfte. Gleichzeitig neigt sich die Sonne dem Horizont entgegen. Aufgrund gesperrter Waldwege muss ich teilweise auf MTB Trails und Wanderwege ausweichen, was den Spaß an dem Tag nicht erhöht. Aber auch der Wurmberg ist bald erreicht und ich die letzte Abfahrt des Tages nehmen.

Kollonnenwege der ehemaligen Grenze sind verlassene Patrouillien-Wege die mit Betonplatten ausgelegt sind. An dem Tag rolle ich mit meinen Fahrradreifen über diesen historisch schwergewichtigen Weg. Dabei bin ich so erschöpft, dass ich die Betonplatten und ihre Kanten nur verfluchen kann. Bis ich endlich aus dem Wald auf eine vierspurige Bundesstraße wechsle. Es geht steil bergab und mit hoher Geschwindigkeit kann ich mich dem motorisierten Verkehr gut eingliedern. Nur etwas mulmig ist einem manchmal schon, wenn man über 60km/h auf dem Tacho sieht und sich auf sein (selbstgebautes) Rad verlässt. Und so geht der Tag zu Ende, als ich an einer Tankstelle letzte Verpflegung für die Rückfahrt mit dem RegioExpress besorge.

Epilog

An einem Umsteigebahnhof kann ich mich auf die warmen Pflastersteine legen. Den ganzen Tag in der Sonne heizen die Steine so auf, dass sie noch nach Sonnenuntergang wärme abgeben. In dem Moment treffe ich noch einen anderen Leidensgenossen, der den Tag nutzte um eine noch längere Strecke abzureissen. Aber es ist eben auch immer eine Frage der Fitness, die man an dem Tag abrufen kann. Sicherlich hätte mein Tag etwas epischer und etwas weniger Elend sein können, aber stolz kann ich heute im Winter auf diesen Tag im Sommer zurückblicken.

Die Strava-Aufzeichnung: